Verlangsamung

Einführung von Volker Friebel

 

Die Welt des Menschen hat sich in den letzten Jahrhunderten beschleunigt. Im Mittelalter hat es bei den Kaufleuten begonnen, bald gab die Uhr und nicht mehr die zu leistende Arbeit den Menschen ihren Lebenstakt vor. Das Streben nach Gewinnmaximierung zur Zeit des beginnenden Kapitalismus legte jeden Handgriff genau fest und beschleunigte die Arbeitsabläufe weiter.

Daneben begann die Beschleunigung im Sport mit Einführung der Wette bei den Pferderennen im England des 17. und 18. Jahrhunderts, die Beschleunigung selbst bei der Aufführung von Musikwerken (etwa klassische Stücke sollen heute deutlich schneller gespielt werden als zum Zeitpunkt ihrer Entstehung), die Beschleunigung auch unseres Alltags.

Die Beschleunigung hat Wohlstand gebracht – und droht doch, mit der linken Hand zu nehmen, wenn sie mit der rechten Hand gab. Stress ist ein Alltagswort geworden, die Terminpläne von heutigen Kindern hätten den Kaufmann des Mittelalters überfordert. Die Hetze ist nicht mehr aufgabenbezogen, wie etwa beim Einholen des Heus vor dem Gewitter (das gab es immer), es ist der Takt der Zeit selbst, der uns hetzt. Ein künstlicher Takt, den erst wir ihr auferlegt haben, und der sich nun verselbstständigt hat und weiter beschleunigt.

Die Auswirkungen zeigen sich inzwischen schon selbst in Kindergarten und Schule. Die Fahrigkeit, Unkonzentriertheit, Hippeligkeit von Kindern nimmt nach den Beobachtungen von Erziehern und Lehrern zu, psychosomatische Probleme häufen sich. Das führt auch zu Problemen im sozialen Kontakt und im Lernen. Ein Gegensteuern ist angebracht.

Wichtig dazu ist Struktur, die möglichst überall betont werden sollte, mit einem festen Ablauf und kleinen Ritualen zur Betonung von Übergängen.

Auch manche Spiele, Lieder, Geschichten beschäftigen sich mit Langsamkeit. Dabei gilt es weniger, einfach langsamer zu werden, als vielmehr, uns unsere Aktivation und Geschwindigkeit bewusst zu machen und durch bewusste Veränderung besser unter eigene Kontrolle zu bekommen. Es geht also um Stärkung der Selbstkontrolle, und darüber um die Wiederherstellung eines natürlichen Zeitgefühls.

So können etwa bevorzugt Lieder gesungen werden, bei denen sich die Geschwindigkeit ändert, und zwar sowohl verlangsamt als auch beschleunigt. Oder Spiele, in denen Konzentration eine Rolle spielt, die damit Langsamkeit fördern.

Wichtig ist Wiederholung. Langsamkeit lernt man nicht wie eine Vokabel und kann sie dann, sondern wir begeben uns immer wieder mit Spielen, Liedern, Geschichten in sie hinein, wir lassen uns von ihr berühren und in der Berührung verändern.

Drei Beispiele. Zuerst ein Lied, dann ein Spiel, dann noch ein Spiel mit anschließender Geschichte.

 

Biene, schwirr

Eigentlich mit Melodie. Bei Klick hier öffnet sich eine pdf-Datei mit den Noten. Wir können den Text aber auch einfach nur sprechen.

Biene, schwirr nur durch die Welt!
Biene, schwirr nur durch die Welt!
Und dann setz dich, und dann setz dich,
schlürf vom süßen Nektar.

Das Lied beginnt schnell und lebhaft – wir begleiten mit den Händen, die schwirren neben einander durch den Raum.

„Und dann setz dich“ singen wir langsamer und ruhiger – die Hände liegen auf einander, die Handrücken nach oben.

„Schlürf vom süßen Nektar!“ singen wir nochmals langsamer, gegen Ende hin immer noch langsamer werdend.

Nach Ende der letzten Zeile drehen wir unsere Hände um, betrachten die leeren Handinnenflächen – und dann kann die Biene wieder abheben und weiterschwirren, das Lied fängt neu an.

 

Laster von der Baustelle

Wir spielen Laster, die Aushub von der Baustelle zur Erddeponie bringen. Jeder ist ein Laster, wir fahren im Kreis hintereinander, ein Leiter sagt die Verkehrslage an. Wir beginnen stehend. Wie unten etwa kann die Anleitung für die Kinder aussehen.

„Die Laster werden beladen. Spürt ihr das Gewicht, wenn der Bagger eine neue Ladung Erde oder Schutt auf die Ladefläche wirft? Noch eine weitere Ladung. Und noch eine. Die Laster sind nun voll beladen.“

„Motor anlassen, ganz langsam losfahren, im Schritt-Tempo. Spürt ihr das Gewicht? Die Straße ist hier schlecht, ihr müsst ganz vorsichtig fahren, um nicht in den Graben zu rutschen.“

„Einbiegen auf die Landstraße. Jetzt geht es schneller. Aber nicht überholen, die Laster sind zu schwer.“

„Da vorn kommt eine Kreuzung, schon mal langsamer fahren. Jetzt anhalten. Warten. So, jetzt ist frei, weiter geht es, auf der Landstraße.“

„Den Berg hinauf. Da spürt man die schwere Last erst so richtig. Ganz langsam mühen sich die Laster die Steigung hinauf.“

„Oben angekommen. Nun geht es wieder schneller. Die Landschaft fliegt vorbei.“

„Ein Stau. Da war vor uns einer unvorsichtig und ist in den Graben gerutscht. Aber wir sind noch alle gut auf Kurs. Ganz langsam und vorsichtig.“

„Der Stau hat sich aufgelöst, es geht wieder in normalem Tempo hin.“

„Da ist der Schuttplatz. Langsamer werden, die Zufahrt ist in ganz schlechtem Zustand. Ganz langsam und vorsichtig.“

„Halten. Die Ladefläche geht langsam hoch, der Schutt rutscht den Deponiehang hinab. Die Laster leeren sich. – Gut gemacht! Jetzt sind sie bereit für eine neue Fahrt!“

 

Kleine Bären wollen naschen

Wir spielen kleine Bären im Wald, auf der Suche nach etwas zu schlecken. Dazu bewegen wir uns im Kreis, und jemand erzählt:

„Die kleinen Bären wandern hintereinander durch den Wald. Was es da alles zu schlecken gibt! Auf niedrigen Sträuchern dicht über dem Boden wachsen Heidelbeeren. Die kleinen Bären bücken sich und pflücken davon.“

„Und da sind Sträucher mit Brombeeren. Die kleinen Bären pflücken im Vorbeigehen von den saftigen Brombeeren.“

„Manche Zweige hängen tief, andere hoch – die kleinen Bären beugen sich, und sie recken sich, um auch ja alle Brombeeren zu erreichen.“

„Aber da sind noch andere kleine Bären unterwegs im Bärenwald – die könnten ihnen bei den besten Beeren zuvor kommen! Die kleinen Bären beeilen sich, sie rennen, um zu den saftigsten Brombeeren zu kommen. Noch im Rennen pflücken sie Brombeeren, stopfen sich ihre Schleckermäuler voll. Sie bücken sich im Rennen nieder und strecken sich hoch, um alle Brombeeren zu erreichen. Und die Heidelbeeren am Boden.“

„Jetzt haben sie sich in den Ranken eines Brombeerbusches verfangen. Sie drehen sich hin, sie drehen sich her. Und zupfen sich noch ein paar Blätter und Dornen aus ihrem Pelz. Dann gehen sie weiter und pflücken wieder von den Beeren, nieder und hoch.“

„Bald sind die kleinen Bären müde geworden. Sie suchen sich Moospolster im Wald. Sie legen sich hin, auf die Moospolster. Sie schließen die Augen. Ihre Glieder sind schwer, ganz schwer. Spürst du, wie schwer die Glieder sind? Und warm ist ihnen, angenehm warm. Spürst du die Wärme auch in dir? Ihr Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein. Sie träumen. Sie träumen von einem kleinen Bären.“

Eventuell noch die folgende Geschichte vom kleinen Bären anschließen. Oder nach einigem Träumen beenden.

 

Kleiner Bär im Brombeerfeld

Der kleine Bär schlendert durch den Wald, auf der Suche nach Abenteuern. Wie das Licht durch die Baumwipfel bricht! Ein Fächer von Strahlen steht zwischen den Bäumen. Vögel pfeifen. Die Luft ist kühl und klar.

Der kleine Bär lauscht ins Weite. Während er mit offenem Mund staunt, brummt dicht vor ihm eine Hummel vorbei. Er schnappt nach ihr – aber sie ist schon weg. Der kleine Bär trottet in die Richtung, in die sie geflogen ist.

Hoppla, stolpert er über eine Wurzel. Er rappelt sich auf und reibt sich die schmerzende Tatze.

Doch was raschelt dort drüben im Unterholz? Der kleine Bär geht darauf zu. Da springt ein Hase heraus und saust ab wie der Blitz. Der kleine Bär saust hinterher.

Der Hase kann eigentlich viel schneller rennen, aber er zieht einen Hinterlauf nach, als sei er verletzt. Der kleine Bär ist ihm dicht auf den Fersen. Immer näher kommt er heran.

Im Wald liegt eine große Lichtung, da hat der Sturm vor Jahren die Bäume umgeblasen. Sie blieben dort liegen, und Dornenhecken wachsen nun zwischen ihnen im Licht.

Der Hase springt einen Wildpfad zwischen die Hecken hinein. Der kleine Bär will folgen, aber er ist viel dicker und größer, die Dornenranken halten ihn fest.

Er zerrt, er reißt, er schafft es sogar, ein Stückchen hineinzukommen ins Dornengestrüpp. Aber dann wird es zu dicht. Der Hase ist längst schon in Sicherheit tief zwischen den Dornen.

Der kleine Bär brummt vor Enttäuschung. In seinem Pelz haben sich Dornen verfangen. Er zerrt an den Ranken, er schlägt mit seinen Tatzen dagegen – aber die Dornen kümmert das nicht.

Da wird der kleine Bär plötzlich ganz ruhig. Er schließt die Augen und atmet einige Male tief durch.

Als er die Augen wieder öffnet, ist die Welt wie verwandelt. Vögel pfeifen, alles um ihn ist ruhig und klar. Der kleine Bär pflückt eine schwarze Beere von der Ranke vor ihm und kostet: Eine Brombeere, süß! Der kleine Bär hat den Hasen völlig vergessen. Er nascht von den köstlichen Beeren ringsum.

Umgeben von Brombeerbüschen hat der kleine Bär einen Platz gefunden, da legt er sich mit vollem Bauch hin. Er zupft sich noch ein paar Dornen aus dem Pelz, und ein Brombeerblatt. Er leckt sich die Tatzen.

Da liegt der kleine Bär nun – ganz ruhig. Spürst du, wie ruhig er ist? Die Ruhe ist überall in ihm, ganz tief. – Schwer sind die Tatzen des kleinen Bären, ganz schwer. Fühlst du, wie schwer seine Tatzen sind? Der kleine Bär ist schwer, ganz schwer. – Warm sind die Tatzen des kleinen Bären, schön warm. Fühlst du, wie warm sie sind? Die Wärme strömt durch seinen ganzen Körper. Der kleine Bär ist warm, schön warm. – Sein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein. – Der kleine Bär ist ruhig, schwer und warm – ruhig, schwer und warm. – So liegt der kleine Bär ein Weilchen und ruht sich aus. Er ruht sich aus und lässt die neue Kraft tief in sich wachsen.

 

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Nach Volker Friebel (2015): Kinder entdecken Ruhe und Langsamkeit. Spielerisch fördern wir Genauigkeit, Konzentration und Kreativität. Tübingen: Edition Blaue Felder. Als Papierbuch und als eBuch.

Weitere Texte zur Verlangsamung für Kinder finden sich dort und in den anderen Publikationen des Autors.

Bücher von Volker Friebel gibt es etwa bei Amazon (der Link führt zur Liste dieser Bücher des Autors bei Amazon; bei Bestellung dort über diesen Link erhält der Autor von Amazon eine Provision). 

 


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