Geführte Imagination

Volker Friebel

 

Imaginationen sind innere Bilder. Geführt meint: Sie werden angeleitet, durch einen Sprecher (Therapeuten, Kursleiter) oder durch ein Audio oder Video.

Die Augen sollten bei einer geführten Imagination geschlossen sein, das erleichtert die Vorstellung innerer Bilder. Eine besondere Körperhaltung ist nicht erforderlich, Imaginationen können im Sitzen oder Liegen erlebt werden, die Haltung sollte einfach bequem sein. Eine Einführung kann etwa lauten „Zum Erleben der inneren Bilder setzen (legen) Sie sich einfach bequem hin und schließen Sie die Augen.“ Etwas Zeit lassen, dann mit der Imagination beginnen. Falls Imaginationen noch ganz unbekannt sind, kommt an dieser Stelle noch der Hinweis: „Bei der Imagination geht es darum, sich das, was gesagt wird, selbst möglich gut vorzustellen. Was angenehm ist, kann etwas ausgeschmückt werden, vielleicht nach der eigenen Erinnerung. Was unangenehm ist, lässt man einfach weg.“ Eine Imagination sollte nicht zu schnell beendet werden. Bewährt hat sich folgender Schluss: „Damit kommen die inneren Bilder zum Ende. Wenn Sie bereit sind, öffnen Sie die Augen und recken und strecken sich.“

Die Vortragssituation bei einer Fantasiereise und einer geführten Imagination ist also die gleiche. Unterschiede ergeben sich durch die andere Zielsetzung: Bei Fantasiereisen stehen die Bilder ganz im Dienste der Entspannung, geführte Imaginationen greifen Probleme des Erlebenden oder therapeutische Prozesse auf und bearbeiten sie. Grundprobleme können in der geführten Imagination oft klarer und schärfer gestaltet werden als im Gespräch. Durch die größere Distanz zum Alltag ist eine bessere Auseinandersetzung mit Problemen möglich: der Erlebende erhält eine Übersicht, die in den Verstrickungen des Alltags kaum gewährleistet ist. Die Bilder der geführten Imaginationen führen über neue Assoziationen zu neuen Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten. Ob diese übertragen werden können und dann auch außerhalb der Imagination und der therapeutischen Situation tragfähig sind, muss im Gespräch erörtert werden und sich im Alltag beweisen.

Bei der Anleitung zu individuellen geführten Imaginationen beschäftigt sich eine erste Überlegung damit, ob ein Problem positiv oder negativ angegangen werden soll. Wenn beispielsweise eine Angstproblematik vorliegt, könnte diese negativ durch eine Beschäftigung mit der Angst und ihren Grundlagen verfolgt werden, oder positiv durch die Förderung von Mut in der Imagination. Was angemessen ist, wird im Einzelfall zu entscheiden sein.

Das Thema kann diagnostisch angegangen werden: beispielsweise durch eine Vorstellungsreise zur Besteigung eines Berges. Die Anleitung ist relativ offen, von Interesse ist, wie der Erlebende den Berg gestaltet – eher als Hügel oder als unzugängliches Massiv – und mit welchen Schwierigkeiten der Aufstieg verbunden ist.

Das Thema kann therapeutisch angegangen werden: beispielsweise durch eine Vorstellungsreise ein liebliches Bachtal hinunter, die plötzlich an einer unüberwindbaren Mauer endet, mit der man zurechtkommen muss.

Es können Imaginationen mit einer aktiven Auseinandersetzung zu bestimmten Problematiken vorgegeben werden, psychologisch beispielsweise zur Angst oder zur Förderung positiver Eigenschaften, medizinisch beispielsweise zur Schmerzbewältigung.

Eine geführte Imagination sollte zumindest bei darin noch unerfahrenen Personen mit ruhigen, entspannenden Bildern beginnen. Oder es wird vorher eine kurze Entspannungsübung durchgeführt, beispielsweise eine Atementspannung, ein Ruhebild oder eine kurze Fantasiereise, die in die geführte Imagination übergeht. Diese wird wie eine Fantasiereise vorgetragen. Anschließend wird über das Erlebte geredet.

Dieselbe Imagination kann wiederholt durchgeführt werden. Interessante Fragen dabei können sein, wie sich beispielsweise der Berg und der Aufstieg zum Berg mit den Sitzungen verändert. Manche Imaginationen können in den wiederholten Fassungen auch gezielt verändert werden. Die Vorstellungsreise das Bachtal hinunter kann bis zur undurchdringlichen Wand beispielsweise immer gleich durchgeführt werden, dann aber können in verschiedenen Sitzungen verschiedene möglicherweise therapeutisch interessante Lösungsalternativen vorgegeben werden, auf die der Erlebende nicht von sich aus gekommen ist. Beispielsweise kann die Bedeutung der Wand verändert werden: vor sich ist sie ein Hindernis, eine Grenze – aber dreht man sich um, kann sie ein Rückhalt sein, ein Ausgangspunkt.

Der Übergang zwischen Fantasiereise (Traumreise) und geführter Imagination ist fließend. Auch eine eigentlich nur zur Entspannung gedachte Fantasiereise kann für manchen Erlebenden überraschenderweise thematische Relevanz aufweisen. Dies kann sich zunächst als Fehlschlag der Fantasiereise äußern.

So führte ich in einem Seminar die Fantasiereise über ein Blatt durch, das sich vom Wipfel eines Baumes löst, in sanften Kreisen zur Erde fällt, weich landet und auf dem Moos liegen bleibt, geborgen im Wald. Alles war sehr positiv gehalten, zwar mit dem Grundthema des Loslassens, ich hätte die Übung jedoch als harmlose Fantasiereise zur Entspannung eingestuft. Während der Durchführung musste eine Teilnehmerin hinausgehen. Sie sagte anschließend, sie habe das Fallen des Blattes nicht ertragen können, ihr sei richtig schlecht geworden. Es stellte sich heraus, dass sie Krebs hatte.

Fantasiereisen möchten Entspannung und positive Stimmungen erzeugen, geführte Imaginationen werden häufig negative Aspekte des Lebens ansprechen und bearbeiten. Sie sind deshalb weniger für die Durchführung in der Gruppe geeignet. Was in der Imagination angesprochen wird, sollte anschließend auch individuell besprochen werden können – und der Anleiter sollte sicher sein, genügend Zeit und Kompetenz für die weitere individuelle Bearbeitung im Gespräch zu haben. Eine Einzeldurchführung oder die Durchführung in kleinen vertrauten Gruppen ist bei geführten Imaginationen deshalb vorzuziehen.

Wenn der Erlebende mit einem bestimmten Bild nichts anzufangen weiß, sollte der Anleiter sich danach richten – auch wenn er es weiterhin relevant findet. Entscheidend sind die Bilder des Imaginierenden und sein Erleben von Bedeutsamkeit – nicht die Bilder, die sich beim Anleiter zu einem bestimmten Thema einstellen. Diese können als Anregung dienen und damit weiterhelfen, Imaginationen sind aber in erster Linie persönliche Imaginationen und daher keine Richtschnur für andere Menschen.

Das Thema der geführten Imagination wird je nach Problem anders gewählt. Sammlungen geführter Imaginationen finden sich beispielsweise in Masters & Houston (1984) oder in Friebel (1998). Folgend zur Anregung einige Kurzfassungen geführter Imaginationen (sie finden sich ausgearbeitet in Volker Friebel, 2012: Aufbrüche).

Zeit, Stress: Im Garten eine lange Reihe von Uhren aus deiner Erinnerung (Wecker, Armbanduhr, Bahnhofuhr, Kirchturmuhr, Küchenuhr, Bürouhr usw.). Du gehst an ihnen vorbei, betrachtest jede und überlegst, was sie für dich bedeutet. Die letzte Uhr ist eine Sonnenuhr. Du schaust von ihr hoch ins Licht.

Angst, Perspektivenwechsel: Du gehst auf einer Straße durch den Wald, um dich herum unheimliches Dunkel. Dann trittst du in den Wald auf einen Pfad: Das Dunkel lichtet sich wie deine Augen sich umstellen. Die Straße erscheint fast gleißend hell.

Auswirkungen: Du gehst einen Weg. Hinter dir bleiben sichtbar goldene Spuren zurück. Du bist längst fortgegangen: Blumen wachsen aus den Spuren. Die Blumen welken: Bienen haben ihren Nektar eingeholt, da ruht er im Stock.

Seelengesichter: Du beugst dich nieder und siehst im See dein Gesicht. Eine Welle läßt es verschwimmen. Als der See wieder glatt ist, hat sich dein Gesicht gewandelt, es ist … (Hier verschiedene Angebote möglich, beispielsweise ein junger Mensch, ein alter, ein Mensch des anderen Geschlechts, ein sehr ruhiger, ein sehr lebendiger Mensch.) Das Gesicht wird genau betrachtet.

Wünsche, Befürchtungen: Du findest in einer Höhle ein Ei und spürst eine starke Beziehung zu ihm. In ihm pocht es, bald wird es sich öffnen. Was wirst du finden?

Perspektiven, Abstand, Relativität von Problemen: Ein Haus von oben betrachten. Dann in größerem Abstand, dann das Stadtviertel oder Dorf. Noch höher: die Stadt oder die Dorfgemarkung. Noch höher: das Land. Noch höher: die Welt. Ins erste Bild des nahen Hauses werden Probleme gesetzt, die eine Person dort hat oder die zwischen Personen dort herrschen. Mit zunehmendem Abstand verschwinden sie.

Was wichtig ist: In einer Bibliothek mit den Büchern der Welt das Buch suchen, in dem das steht, was wichtig für mich ist. Wo suche ich? (Mögliche Erweiterung:) Ich finde schließlich das Buch und nehme es mit in den Garten, schlage es auf: Alle Seiten sind leer.

Brücken schlagen: Eine Brücke in wogendem Nebel. Du auf der einen Seite, auf der anderen Seite schemenhaft ein anderer Mensch. Du gehst auf ihn zu. Er zögert, geht dann ebenfalls los. In der Mitte der Brücke trefft ihr euch, schaut euch an. Wer ist es?

Gefühle: Neben jemandem gehen, den man mag. Auf die Landschaft achten, sie die positiven Gefühle zum Begleiter ausdrücken lassen. Auf sich selbst achten. Dann Blende: Neben jemandem gehen, den man nicht mag. Wieder drückt die Landschaft die Gefühle aus, die man hegt. Wieder auf sich selbst achten. Dann wird die Landschaft verändert, sehr schön gestaltet, der unangenehme Begleiter bleibt aber erhalten. Auf die Veränderung der Atmosphäre und des Verhältnisses zum Begleiter achten.

Inneres Lächeln: Mit Aufmerksamkeit in den eigenen Körper gehen, dem Leben nachspüren, dem Strömen von Ruhe und Kraft. Das eigene Gesicht in sich vorstellen, mit einem Lächeln. Sich vorstellen, wie sich das Lächeln ausbreitet, immer weiter, bis es einen ganz durchdringt und verwandelt.

Hier nun einige Imaginationen:

Ruheort – Zur Entspannung
Busch aus dem Mauerspalt
Das Lächeln
Der See im Wald – mit Audio
Die Fülle des Brunnens
Die große Wiese – mit Audio
Die Hütte in der Bergwiese – mit Audio
Die Musik des Waldbachs – mit Audio
Meeratem – mit Atementspannung
Die Quelle
Die Ruhe des Berges
Freude
Frieden
Gebeugte Kiefer am Berg
Im Wald
Lindenallee an der Landstraße
Mein Garten der Ruhe
Weiße Wolken

 

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Aus: Volker Friebel (2012). Innere Bilder. Imaginative Techniken im Alltag und in der Psychologie. Edition Blaue Felder, Tübingen.

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