Die Hirtin der Ziegen

Entspannungsgeschichte von Volker Friebel

 

Stell dir vor, du steigst mit Mieze vom Wolkenschloss in ein Traumland hinunter, an langsam treibenden Wolken vorbei, Stufe um Stufe. Stell dir vor, wie du mit jeder Stufe ruhiger und freudiger wirst.

Die Treppe endet in einem weiten Tal im Gebirge. Da ist ein See. Da sind Wiesen und Hänge voll Wald, die in Fels übergehen, auf denen ganz oben Schnee glänzt. Ihr geht einen Wanderweg am See entlang.

Wer ruft? Du bist stehen geblieben und lauschst. „Ziegen“, schnurrt Mieze und schnüffelt an einer Butterblume.

Da siehst du sie auf der Wiese vor euch, sie kommen vom Berghang. Sechs sind es, sieben, acht, sogar neun. Gemütlich laufen sie zu den Häusern vor euch am Weg. Und da springt noch eine Ziege mit ihrem Jungen hinterher.

Vor ihnen geht eine Frau in weiten Gewändern. Sie trägt einen krummen Stab. ,Das muss die Hirtin sein‘, denkst du.

Die Sonne scheint angenehm warm. Du hörst das Rauschen des Sees, ab und zu die Stimmen der Ziegen – und einen Klang der Weite, der vielleicht vom Himmel kommt, vielleicht vom See, vielleicht vom Schnee auf den Gipfeln.

Schritt vor Schritt, so kommt ihr an den Häusern des kleinen Dorfs an. Die Ziegen haben sich schon an einem Häuschen versammelt. Da werden sie gemolken. Silberne Kannen voll Milch stehen an einer windschiefen Wand.

Kinder treten aus einem der Häuser und führen die gemolkenen Ziegen zu einer Weide am See.

Die Hirtin ist geblieben. Sie sitzt auf einer Bank vor dem Milchhaus und singt ein Lied ohne Worte. Als sie euch kommen sieht, stellt sie eine Schale voll Milch auf den Boden, für Mieze. Die Hirtin sagt nichts, aber sie lächelt.

Mieze trinkt schweigend. Du betrachtest die Hirtin und freust dich an ihren schönen Kleidern und ihrem zum Kranz hochgesteckten gold-blonden Haar.

Als ihr weitergeht, fragst du Mieze: „Warum so schweigsam?“

„Hast du sie nicht erkannt?“, schnurrt Mieze zurück.

Du blinzelst. „Die Ziegenhirtin?“, fragst du.

„Das war Kunigunde, die Königin des Wolkenschlosses.“

Du blinzelst noch einmal und drehst dich um. Die Bank vor dem Haus ist leer. In der Ferne siehst du die Hirtin am See bei den Ziegen.

„Kunigunde“, erzählt Mieze, als ihr weitergeht, „ist selten im Schloss bei den Festen dabei. Viel lieber streift sie durch die Länder der Erde. In vielen Gestalten ist sie unterwegs. In diesem Land als die Hirtin der Ziegen. Hast du den Glanz bemerkt, der über dem See und den Ziegen lag?“

Du schweigst. Alles war dir einfach nur schön vorgekommen. Der See, ja, die Ziegen, die Hirtin, die Kinder. Selbst die armen Häuser des Dorfes.

„Es ist ein Glanz, der auf allen Dingen liegt“, schnurrt Mieze, als hätte sie deine Gedanken gelesen. „Er ist immer da, aber nur manchmal nehmen wir ihn wahr.“

Ihr geht weiter den See am Weg, jeder in seine Gedanken versunken.

„Wenn der Glanz immer da ist, warum sehen wir ihn dann nur selten?“, fragst du nach einer Zeit.

„Das weiß ich nicht“, schnurrt Mieze. „Weil wir nicht auf ihn achten. Weil wir immer so viel zu tun haben. Weil wir immer drei Dinge gleichzeitig tun und zehn Dinge betrachten und so nichts richtig sehen.“

„Außer manchmal“, sagst du.

„Vielleicht ist Kunigunde auch deshalb so gern in den Ländern der Welt unterwegs“, schnurrt Mieze. „Sie zeigt den Kindern Steine und Blumen. Sie führt die Ziegen ins Dorf. Sie spricht mit denen, die traurig sind. Sie lächelt. Sie singt gern.“

An einer Biegung des Wegs beginnt die Wolkentreppe. Du schaust noch einmal über den See und die Weiden am See. Dann steigt ihr hinauf, die Wolkenstufen Schritt um Schritt höher, zum Wolkenschloss. Mit jeder Stufe merkst du, wie du ruhiger wirst.

Im Wolkenschloss legt ihr euch auf das große blaue Sofa und schließt die Augen.

Da liegst du – ganz ruhig. Kannst du die Ruhe in dir spüren? Die Ruhe ist überall in dir. – Kannst du spüren, wie schwer du bist? Dein ganzer Körper ist schwer, angenehm schwer. – Kannst du spüren, wie warm du bist? Die Wärme strömt durch deinen ganzen Körper. Du bist warm, angenehm warm. – Dein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein. – Du bist ruhig, schwer und warm – ruhig, schwer und warm. – So liegst du ein Weilchen und ruhst dich aus. Du ruhst dich aus und spürst die neue Kraft tief in dir wachsen.

Damit kommt die Geschichte langsam zum Ende. Wenn du bereit bist, reckst und streckst du dich und öffnest die Augen.

Lied der Ziegenhirtin

Seen am Himmelsrand,
Gräser im weiten Land …
Folge der Ziegenschar,
singend wird alles klar.

Blumen im grünen Tal,
Berge und Sonnenstrahl …
Siehst du den Himmelsglanz?
Tanz einen Ziegentanz!

Sing mit den Vögeln, sing!
Drehe am Zauberring …
Lied wird nun alles um dich.
Singend erst siehst du mich.

 

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Eine Geschichte aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Entspannungsgeschichten vom Wolkenschloss. Edition Blaue Felder, Tübingen. Mit Illustrationen.

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